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Kinder bewegen sich zu wenig: Was tut Bremen dagegen?

Kinder bewegen sich zu wenig – was tut Bremen dagegen?

Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Seit der Corona-Pandemie sind in Bremen mehr Kinder übergewichtig — vor allem in ärmeren Stadtteilen. Lösungen für das Problem schlagen bislang aber noch nicht an.

Es ist kurz vor 17 Uhr und in der Sporthalle der Grundschule Fischerhuder Straße in Bremen-Gröpelingen herrscht helle Aufregung. Zwei Jungs in Fußballtrikots der türkischen Mannschaft Fenerbahce Istanbul üben Pässe: Der eine dribbelt, dreht sich um, strauchelt auf den zweiten, erhebt sich wieder, nimmt Fahrt auf und schießt ins Tor – ein rot bemaltes Rechteck an der Wand. Der Ball prallt mit Wucht gegen die graue Filzplatte, ein stumpfes Plump und lautes Gelächter hallt durch die Halle.

Die Jungs sind keine professionellen Spieler, die Gruppe, die den aktuell etwas unpassenden Namen "Kicken – Sport auf der Straße" trägt, ist ein Angebot des Vereins Gesundheitstreffpunkt West in Gröpelingen. Klar ist: Hier thront das Vergnügen über allem. "Freundschaft und Spaß stehen im Vordergrund, nicht die Leistung", betont Übungsleiter Bülent Aksakal. Und genau deswegen kommen Teenager wie Serhat — 17 Jahre alt, die dunklen Haare kurz im Nacken rasiert — seit sechs Jahren einmal pro Woche hierher, trainieren zwei bis drei Stunden nach einem langen Tag auf den Schulbänken oder im Betrieb.

Ein Mann mit blauer Wollmütze steht mit verschränkten Armen vor einer Graffiti.
Versucht zusammen mit seinen Kollegen und Kolleginnen, die Kinder zu ermuntern, sich mehr zu bewegen: Übungsleiter Bülent Aksakal. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Die Gruppe soll die Jugendlichen ermuntern, sich mehr zu bewegen. Denn laut einer jüngsten Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung waren Kinder in der Corona-Pandemie viel zu wenig aktiv – und sind es offenbar immer noch. Schon vor Corona haben sich Jugendliche in Europa im Schnitt weniger als 60 Minuten pro Tag, das von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Mindestmaß, bewegt. Mit der Schließung von Sportvereinen und Spielplätzen sank die Bewegungszeit um weitere zwölf Minuten – und eine Besserung ist laut Institut nicht in Sicht.

Medienkonsum statt Sport während Corona

Zwei Jugendliche spielen Fußball.
Spaß und Freundschaft: Deswegen kommen die Teenager in die "Kicken"-Gruppe. Bild: Radio Bremen | Serena Bilanceri

Die Ergebnisse wundern die Bremer Sportwissenschaftlerin Ina Hunger nicht. Hunger hat während der Pandemie zu frühkindlicher Bewegung recherchiert. Das Ergebnis: Kinder, die sich zu Hause bewegen wollten, wurden oft mit Tablets, Fernsehen oder Essen ruhiggestellt, damit sie nicht störten. Quer durch die sozialen Schichten.

Doch vor allem sozial benachteiligte Familien litten darunter. Dort sei der Zugang zu Bewegung und Sport noch eingeschränkter: Eine Mitgliedschaft im Sportverein sei "nicht immer selbstverständlich", das Bewusstsein teils "nicht so ausgeprägt, dass Bewegung für die Gesundheit von Bedeutung ist", sagt Hunger. Aber vor allem seien die Familien mit grundlegenden Problemen beschäftigt, die Vorrang haben: das Geld, das bis zum Ende des Monats nicht reicht, die Aufenthaltserlaubnis, die nicht erneuert wird, der Job, der auf der Kippe steht. Die Ressourcen fehlten einfach, erklärt die Expertin.

Die Folgen können gravierend sein. Kinder, die wenig aktiv sind, könnten sich nicht so gut entwickeln wie aktive Kinder – körperlich, aber auch psychisch. Es gehe dabei um die Entwicklung von Knochen und Organen, des Kreislaufs, doch ebenso um Selbstvertrauen, Sozialisierung und Lebensstil, erklärt Hunger. Die Vorsitzende des Bremer Kinder- und Jugendärzteverbands, Claudia Karsten, sieht das ähnlich.

Die Kinder sind über zwei, drei Jahre mit weniger Bewegung groß geworden. Und das ist das, was jetzt nachwirkt.

Claudia Karsten, Kinderärztin

Weniger Schwimmkompetenz, weniger Bewegungsgeschicklichkeit, Ängste und Depression seien nur einige der Folgen. Und dann steige noch das Risiko für Übergewicht, betont Karsten.

Sozial benachteiligte Kinder sind häufiger übergewichtig

Schaut man auf Bremen, zeigen sich in dieser Hinsicht deutliche Unterschiede zwischen den Stadtteilen. Dort, wo viele Kinder auf soziale Hilfe angewiesen sind, wo die Menschen nicht auf Selbstoptimierung getrimmt sind, ist der Anteil übergewichtiger Kinder höher. Das zeigen Daten des Bremer Gesundheitsamtes, das die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen sammelt. Insgesamt waren in Bremen 2022 etwa 14 Prozent der Kinder adipös, doch in sozial benachteiligten Stadtteilen lag der Wert bei knapp 20 Prozent, während er in den wohlhabenden nur etwa sechs Prozent betrug. 2023 nahm der Anteil für die gesamte Stadt leicht ab, auf etwa 13 Prozent, blieb aber höher als noch vor der Pandemie.

Anteil übergewichtiger Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung 2020-2022

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Wieso Kinder in ärmeren Stadtteilen häufiger von Übergewicht betroffen sind, hängt von mehreren Faktoren ab. "Das Realeinkommen vieler Familien ist geschrumpft, schon vor der Pandemie, die Preise von Gemüse und Obst sind gestiegen, da kam es zwangsläufig zu ungesunder Ernährung", erklärt "Kicker"-Trainer und Gesundheitsfachkraft Aksakal, der sich gerade von einem kämpferischen Teenager frei gespielt hat. Bescheidene Wohnverhältnisse, etwa in beengten Wohnungen ohne Gärten, spielen laut Experten ebenso eine Rolle. So wie die Belastungen in der Familie und das soziale Umfeld. Die knappe Zeit, um zusammen zu kochen. Der erhöhte Medienkonsum.

Anteil der Sozialhilfe-Leistungsberechtigten unter 15 Jahren

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Bremer Ressorts: In Bremen gibt es mehrere Angebote

Die Lösungen des Problems sind vielfältig: Wichtig sei es über die Vorteile von Bewegung und gesunder Ernährung in den Familien aufzuklären, vor allem wohnortsnahe Bewegungsangebote eigneten sich, sagt Hunger. Aksakal schlägt vor, gesunde Ernährung und Kochen im Schulunterricht zu behandeln. Außerdem müsse es gerade in Ballungsgebieten mehr grüne Flächen, Hallen und Spielorte geben, sagt er.

Wir brauchen keine Hochglanzflyer, sondern eher zielgruppenspezifische Arbeit.

Ina Hunger, Sportprofessorin

Eigentlich sind die Lösungen bekannt, seit Jahren – doch irgendwie schlagen sie noch nicht an. Dabei ist auch die Politik gefordert, sind sich die Experten einig. In Bremen gebe es mehrere Initiativen, sagen die Bremer Gesundheits- und Bildungsressorts. Gesundheitsfachkräfte an Schulen und in den Stadtteilen, die auch mal spielerisch und an Brennpunkten Informationen vermitteln: frühkindliche Beratung bei den Hebammenzentren, bei Hausbesuchen in jungen Familien. Außerdem gebe es die Initiative "Starke Kinder" im Bremer Westen von der Diako Bremen, die sich an übergewichtige Kinder richtet.

Kinder müssen Freude an Bewegung haben und Lust auf gesundes Essen entwickeln. Da leisten Lehrkräfte, Gesundheitsfachkräfte an Schulen, Anbieter des Schulessens wichtige Überzeugungsarbeit, auch den Eltern gegenüber.

Die Bremer Bildungssenatorin Sascha Aulepp im buten un binnen Studio.
Sascha Aulepp, Bremer Bildungssenatorin

Doch Jugendliche wie Arkan*, der seinen Namen öffentlich nicht nennen möchte, finden, es könnte auch mehr sein – mehr Aktivitäten für Teenager, gerade in Gröpelingen. "Manchmal ist es halt langweilig", sagt er.

In der "Kicken"-Gruppe sind inzwischen mehr Jungs angekommen, fünf rennen dem Ball hinterher, einer unterhält sich mit Aksakal auf der Sitzbank über Berufsausbildungen. Auf dem Feld dribbelt ein Junge im grauen T-Shirt den Gegner, passt den Ball zu einem Kommilitonen, dieser rennt zur Torlinie, holt auf, schießt, Tor! "Haben Sie das fotografiert?", brüllt einer der Jungs außer Puste. Denn der Spaß steht hier im Vordergrund. Aber ein gewisser Stolz ist ja nie verkehrt.

*Name von der Redaktion geändert.

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Autorin

  • Serena Bilanceri
    Serena Bilanceri Autorin

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 3. Mai 2024, 19:30 Uhr